
Michael Herger ist Country Representative Sudan für das Schweizerische Rote Kreuz (SRK). Er gibt uns einen Einblick in seine Arbeit. Wie genau hilft das Schweizerische-RK in ausländischen Krisengebieten und wie erlebt Michael diese Einsätze?

Wie sind Sie zu ihrem Berufsweg im Schweizerischen Roten Kreuz gekommen?
Ich habe zunächst eine Banklehre und dann ein Finance und Banking Studium gemacht. Später erkannte ich, dass ich etwas Neues machen wollte, was mein Interesse an globalen Fragen einbezieht und verbindet.
Über die Passerelle bin ich an ein Geografie Studium an der Uni Bern gelangt, wo ich interessante Professoren und Professorinnen kennenlernte, die im Ausland, zum Bespiel in Laos oder Kenia gelebt und gearbeitet hatten. Das hat mich fasziniert und mein Interesse geweckt, weshalb ich dann meine Masterarbeit in Kenia vollendete. Dort habe ich gemerkt, dass ich mich an der internationalen Zusammenarbeit beteiligen möchte. Ich kannte und fand das Schweizerische Rote Kreuz schon immer interessant. Deshalb habe ich mich an einem SRK Junior Programm Koordinator beworben und bin so vor fünf Jahren zum SRK gelangt. Die internationale Zusammenarbeit war das, was mich interessierte, und das SRK, ein wichtiger Player in diesem Feld, kam mir entgegen. Ja, seitdem bin ich beim SRK.

Warum haben Sie sich ausgerechnet für die Arbeit im Ausland entschieden?
Das war eigentlich auch ein bisschen auf diese erste Erfahrung in Kenia zurückzuführen. Ich habe wie schon erwähnt für meine Masterarbeit dort gelebt, gearbeitet und geforscht. Als ich Bodenproben in den Naturreservaten genommen habe, war es wirklich sehr faszinierend. Ich konnte neben Giraffen und Elefanten auch noch viel über die Kultur und die Leute dort erfahren. Ich fand es interessant, sich in einen komplett neuen Kontext reinzugeben. Gleichzeitig habe ich gemerkt, dass es mir hier sehr viel mehr Spass macht, als in der Schweiz zu arbeiten. Ich war motiviert immer mal wieder ins Ausland zu gehen und so hat es sich später dann auch ergeben, dass ich im Ausland arbeite.

Sie waren also in verschiedenen Regionen tätig. Unter welchen Bedingungen haben Sie in ihren Einsatzorten gearbeitet?
Mit der Caritas war ich in Süd-Asien, mit dem SRK zwei Jahre lang in Ghana und ein halbes Jahr im Sudan tätig. Zurzeit halte ich mich wieder in Kenia auf, aber arbeite für den Sudan. Im Sudan vor dem Kriegsausbruch war ein einfaches Setup. Dort war ich Wash-Delegierter, hatte also technische Aufgaben für Wasser und Hygiene. Deshalb übernachtete ich oft in den Communities. Es war sehr speziell, mit den Leuten vor Ort zu sein. Die Sicherheitsbedingungen sind nicht immer so gut nach dem Ausbruch des Kriegs, was die Bewegungsfreiheit auch etwas einschränkt.
Wie sieht Ihr typischer Alltag aus?
Das kommt darauf an. Ich war dazu mal technischer Delegierter, zuständig für die technische Unterstützung. Jetzt bin ich Country Representative, also mehr in einer Koordinationsfunktion. Meine jetzige Aufgabe besteht darin, mit unserem Partner, dem sudanesischen Rothalbmond, neue Projekte auszuarbeiten, beispielsweise im Gesundheitsbereich. Und ja, der Alltag ist ziemlich abwechslungsreich. Das ist ein Unterschied zur Schweiz.
Können Sie uns einen genaueren Einblick geben?
Ja natürlich! Ich habe Tage, an denen ich viele Meetings habe und Tage, an denen ich ins Feld gehen kann, wie wir es sagen oder in eine Community. Dann schaue ich immer wieder Berichte an, verfolge natürlich die Sicherheitslage und die politische Lage. Die Finanzberichte schaue ich auch durch und mache neue Budgets und viele weitere Sachen. Der Alltag ist auch sehr abhängig vom Stadium des Projekt Cycle, in dem man sich zurzeit befindet. Bei der Erstellung eines neuen Projekts ist die Arbeit stärker auf die Recherche, Planung, Zusammenarbeit und Koordination ausgesetzt. Zwischendurch fällt viel Partner-Management an, wie wir das nennen. Gegen Ende des Projekts führt man eine Evaluation durch, um zu überprüfen, wie erfolgreich das Projekt verlaufen ist.
«Mein Beruf ist darauf ausgelegt, dass ich Herausforderungen meistere.»
Wie gehen Sie mit unerwarteten Problemen und Herausforderungen um?
Dieser Beruf ist darauf ausgelegt, dass man Herausforderungen meistert. Wir unterstützen eigentlich immer eine lokale Nationalgesellschaft und implementieren nicht selbst Projekte. Wenn ich berate und unterstütze, muss ich mich deshalb meistens mit Hindernissen und Unklarheiten auseinandersetzen. Der Ausbruch des Kriegs im Sudan war natürlich eine riesige Herausforderung. Damals war ich verantwortlich für die Sicherheit und musste auch einen Delegierten evakuieren, was eine Komplikation war. Bei solchen Schwierigkeiten sammle ich verschiedene Informationen, die ich auch einschätze, und ich tausche mich immer mit Kollegen und Kolleginnen aus. Als es zum Beispiel im Sudan von den Lebensbedingungen etwas schwieriger wurde, hat man je nachdem, welche Aufgaben man hatte, viel Schreckliches mitgekriegt und erlebt. Mann hatte dann die Möglichkeit Social-Support zu bekommen und auch psychologisch unterstützt zu werden. Natürlich gibt es auch die Gelegenheit sich mit Familie und Partner auszutauschen, was bei solchen Ereignissen helfen kann.

Was sind die wichtigsten Prinzipien, die man bei der Arbeit im Hinterkopf haben muss?
Beim Schweizerischen Roten Kreuz gibt es in der internationalen Zusammenarbeit viele solche wichtigen Prinzipien. Wahrscheinlich kennt ihr die sieben Rotkreuz Grundsätze. Die Menschlichkeit ist sicher das oberste Prinzip für uns. Also, dass die von einer Katastrophe betroffenen Personen in erster Linie sind und man sie im Vordergrund behält. Ein weiteres wichtiges Prinzip heisst «Do No Harm». Dabei muss man schauen, dass Projekte oder Interventionen, die man macht, nicht zusätzliche Konflikte oder sogar Schäden verursachen könnten. Dies ist zum Beispiel, wenn wir in eine Gemeinde gehen und dort Migranten unterstützen. Es gibt ja dort immer eine Host Community, die vielleicht nichts davon profitiert. Dies kann dann Konflikte, Missgunst oder Anderes auslösen.
«Bei Evakuierungen setzten Locals ihr Leben aufs Spiel.»
Hatten Sie prägende Begegnungen und Erfahrungen mit der lokalen Bevölkerung?
Ja, ich würde definitiv sagen, dass ich immer wieder prägende Begegnungen habe. Wegen der Sicherheitssituation bin ich weniger vor Ort, aber vor dem Krieg war immer das Highlight, sich in den kleinen Gemeinschaften auszutauschen. Das simple Leben, was einen sehr berührt und dass man sich der eigenen Privilegien wieder bewusst wird.
Können Sie dazu spezifische Ereignisse erläutern?
Also vor allem bei den Wasser-Projekten, die ich unterstützt habe. Dort bohrt man eigentlich nach Wasser im Boden. Wenn es dann rauskommt, haben die Leute daraufhin getanzt und hatten eine Riesenfreude. Das habe ich zum Beispiel in Ghana miterlebt. Wir hatten in Gesundheitsprojekten Hebammen mitausgebildet und dort gab es auch immer wieder sehr berührende Begegnungen. Etwas, was mich zum Beispiel auch sehr überrascht und bewegt hat, war wirklich die Selbstlosigkeit der Sudanesen. Als wir Evakuierungen durchführen mussten, haben sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um quasi nur jemanden von uns evakuieren zu können. Sie als Locals bleiben aber zurück. Das ist krass. Kommt ein Krieg, gehen wir raus, aber sie bleiben zurück. Trotzdem sind sie in so einer Situation in der Unterstützung und auch uns gegenüber sehr selbstlos.
Welches persönliche Motto, befolgen Sie?
Vielleicht nicht ein Motto, sondern mehr persönliche Prinzipien, die mir wichtig sind. Wenn ich zum Beispiel mit lokalen Leuten zu tun habe, wäre es sicher in erster Linie, dass ich ihnen zuhöre und versuche sie zu verstehen. Auch immer kritisch zu sein und Sachen zu hinterfragen, ist mir von großer Bedeutung. Das betrifft auch unsere eigene Arbeit. Wichtig ist es mir auch, bescheiden zu bleiben und eine gute Balance mit meinem persönlichen Leben zu finden.
«Ich würde junge Leute dazu animieren, sich über Konflikte und auch die Schicksale abseits der Mainstream Medien zu informieren.»
Welche Botschaft möchten Sie jungen Menschen mitgeben, die sich für humanitäre Hilfe einsetzen wollen?
Grundsätzlich kann ich junge Leute nur dazu ermutigen. Es ist ein superspannendes Feld, wo auch viele Bereiche zusammenkommen. Sich für etwas Gutes einzusetzen, finde ich auch für die persönliche Entwicklung sehr von Vorteil. Einerseits ist es dein Beruf, aber andererseits ist es auch etwas, was einen persönlich weiterbringt, denke ich. Ich würde junge Leute auch dazu animieren, sich über Konflikte und auch die Schicksale abseits der Mainstream Medien zu informieren. Über den Sudan ist beispielsweise nicht sehr viel in den Medien, aber dieses Gebiet hat zurzeit eigentlich eine der grössten humanitären Krisen. Weil der Westen andere Interessen hat, hört man leider nur wenig darüber. Wenn man sich für die Humanitäre Hilfe interessiert, würde ich mich informieren, was das genau bedeutet. Man hat oftmals etwas andere Vorstellungen über solche Arbeit, weshalb es sicher gut ist zu schauen, was die Arbeit genau ist und was man macht.

Debora Freiburghaus ist eine Mitarbeiterin im Schweizerischen Roten Kreuz Kanton Bern. Sie ist dort in der Abteilung Migration für die Koordination der Freiwilligenprogramme für Geflüchtete zuständig. Sie berichtet über ihre Arbeit, Motivation und Herausforderungen.

Wie sieht ein typischer Alltag beim Schweizerischen Roten Kreuz Kanton Bern in der Abteilung Migration aus?
Es gibt verschiedene Arbeitsbereiche mit vielen Mitarbeitern, die je nach Bereich alle sehr unterschiedliche Aufgaben haben. Ist man zum Beispiel in einem Asylzentrum tätig, schaut man, dass alle Bewohner*innen sich zurechtfinden, zu ihren Terminen gehen und so weiter. Es gibt aber auch viele Mitarbeiter, die am Computer arbeiten und sich vor allem um Organisatorisches kümmern oder Meetings führen.
Sie kümmern sich um die Betreuung der Freiwilligen. Welche Aufgaben haben Sie da?
Ja genau, ich bin für Freiwillige in der Abteilung Migration zuständig und rede dort mit Interessierten, die sich bei uns melden. Alle sechs Wochen veranstalten wir einen Online-Anlass, bei dem die Freiwilligen Informationen erhalten und sich anschliessend für einen Einsatz anmelden können. Die Anmeldungen sehe ich mir dann alle durch und organisiere gemeinsam mit der Sachbearbeiterin weitere Dokumente, die wir für einen Einsatz benötigen. Dies ist vor allem deshalb nötig, weil die Freiwilligen mit besonders vulnerablen Menschen in Kontakt kommen werden. Nachher muss ich ihre Kompatibilität mit den Geflüchteten auf der Warteliste abwägen, also den Wohnort, Interessen, das Alter, Sprachkenntnisse etc. Bevor das Engagement beginnt, findet noch ein Gespräch zwischen Freiwillige*r, geflüchteter Person und mir statt, um zu bestätigen, dass sich die Beiden gut verstehen und danach kann es los gehen.
«Man sollte keine fixen Vorstellungen haben, weil oftmals etwas anders läuft als erwartet.»
Muss man bestimmte Grundkompetenzen besitzen, wenn man sich als Freiwillige*r melden möchte?
Ja, gute Kenntnisse in Deutsch, oder Französisch im Seeland, wären sehr wichtig. Bei den meisten Flüchtlingen geht es nämlich darum, ihre Sprachkompetenzen zu verbessern. Wenn Freiwillige also schlecht Deutsch sprechen, wird dies schwierig. Der zweite Punkt wäre die Offenheit gegenüber einer Person, die man noch nicht kennt. Man sollte keine fixen Vorstellungen haben, wie etwas sein soll, weil oftmals etwas anders läuft als erwartet.

Was ist ein häufiger Grund, warum sich die Interessierten bewerben?
Oftmals haben sie schon früher Freiwilligenarbeit geleistet und möchten es gerne wieder tun. Oder sie waren im Ausland bzw. haben Wurzeln in einem anderen Land. Einige sagen, dass sie ihr Wissen, ihre Zeit oder ihre Unterstützung an Menschen weitergeben möchten, die vielleicht noch nicht so gut in der Schweiz angekommen sind. Auch das Interesse an anderen Kulturen, Menschen und ihren Geschichten ist oftmals vorhanden. Es gibt grundsätzlich viele gute Gründe. Diese müssen wir natürlich durchlesen, damit wir erkennen, ob es jemand ernst meint oder ob ihm der Aufwand, der mit der Zusammenarbeit folgt, nicht wirklich wert ist.
Spielt im SRK die Freiwilligenarbeit eine grosse Rolle?
Ja, das SRK ist die grösste Freiwilligenorganisation der Schweiz. Wenn ich mich nicht irre, sind im kantonalen Verband Bern etwa 2’000 Freiwillige aktiv. Also mehr als Mitarbeitende. Viele von ihnen sind im Fahrdienst tätig und fahren oft mobilitätseingeschränkte Personen für günstige Preise zu ihren Arztterminen oder anderen Anlässen.
«Andere Abteilungen haben oftmals Mühe, Freiwillige zu finden.»
Kann es denn auch Herausforderungen geben, wenn man mit so vielen Freiwilligen arbeitet?
Je besser koordiniert das Arbeiten ist, desto weniger Probleme gibt es auch. Es ist aber natürlich schon so, dass wir diese Personen am Anfang noch nicht so gut kennen. Dies birgt Risiken. Meistens bietet es jedoch eine Chance. Die Mehrheit arbeitet sehr fleissig mit. Eine Schwierigkeit wäre auch, dass man sich nicht so oft trifft. Deshalb weiss man nicht immer, ob alles in Ordnung ist. Man ist also darauf angewiesen, dass die Freiwilligen sich melden, falls etwas wäre.
Gibt es noch weitere Schwierigkeiten?
Herausfordernd kann es auch sein, wenn sich Personen anmelden und kurz darauf wieder abmelden. Dann geht das Geplante plötzlich nicht mehr und man muss es neu koordinieren. Oftmals haben andere Abteilungen Mühe, überhaupt Freiwillige zu finden, weil sich die Leute vielleicht auch nicht mehr über längere Zeit zu etwas verpflichten möchten. Bei unserer Abteilung haben wir das Glück, dass sich viele für das Thema Migration und Flucht interessieren. Andere Bereiche jedoch haben heutzutage mehr Probleme.
Wenn Sie neue Freiwillige suchen, wie machen Sie das denn?
Auf der Website des SRK ist eigentlich alles drauf. Wenn man im Internet selbstständig nach Einsätzen beim SRK Kanton Bern sucht, findet man uns. Wie schon gesagt, funktioniert das in unserer Abteilung im Moment noch gut, aber eben nicht überall. Manchmal versuchen wir auch mal Flyer lokal zu verteilen oder etwas am Bahnhof auszuhändigen. Auch ein gutes Portal ist Benevol. Auf dieser Webseite können sich Freiwillige verschiedene Einsätze nach Region oder Ort aussuchen und wir haben dort auch unsere Inserate drauf. Wenn also jemand nur Benevol und nicht die konkreten Einsätze unserer Abteilung kennt, kann er dort ebenfalls unsere Angebote sehen.
Wie sind Sie zu ihrer heutigen Stellung im Schweizerischen Roten Kreuz gekommen?
Ich habe mich eigentlich in erster Linie entschieden im Bereich der Migration des SRK zu arbeiten, weil ich schon lange in diesem Bereich tätig war. Im Jahr 2020 gab es im Kanton Bern eine neue Strukturierung des Asylbereichs, bei dem das SRK Kanton Bern zwei Regionen gewann. Ich war früher bei der Heilsarmee Flüchtlingshilfe. Diese haben keine Aufträge mehr bekommen, weshalb ich eine neue Stelle suchen musste. Da das SRK sehr viele neue Stellen hatte, habe ich mich dort beworben.

Was gefällt Ihnen an Ihrem Job am besten?
Ich arbeite sehr gerne mit Menschen und mag es, in Kontakt mit ganz verschiedenen Leuten zu sein. Besonders gefällt mir, dass ich mit meiner Arbeit die Integration geflüchteter Personen unterstützen kann. Zudem gefällt mir die Arbeit im Team. Ich fände es schade, wenn ich allein arbeiten müsste.
«Ich möchte, dass Geflüchtete von einer freiwilligen Begleitung profitieren können.»
Haben sie ein persönliches Motto oder etwas, was Sie motiviert zu arbeiten?
Ich möchte, dass Geflüchtete durch eine freiwilligen Begleitung Unterstützung für ihren Neuanafang in der Schweiz erhalten. Das motiviert mich, immer wieder Wege zu finden, wie genau diese Menschen am besten unterstützt werden können. Ich bin nämlich davon überzeugt, dass die Begleitung durch eine freiwillige Person den Flüchtlingen wirklich weiterhilft. Wir erhalten sehr viele positive Rückmeldungen.
Was würden Sie jungen Interessierten, die anderen Menschen helfen wollen, mitteilen?
Ein super Einstieg in das Thema ist natürlich, wenn man einen Freiwilligeneinsatz macht. Dann lernt man den Bereich Migration schon ziemlich gut kennen. Auf jeden Fall sollten sie viele verschiedene Erfahrungen sammeln. Man kann zum Beispiel für ein Jahr ins Ausland gehen, was ich auch getan habe, und dort einen Freiwilligeneinsatz machen. In sozialen Berufen schnuppern zu gehen, wäre auch eine Möglichkeit. Aber allgemein mit Menschen in Kontakt zu kommen, um zu sehen, wie man mit Fremden umgeht, ist sicher auch etwas Spannendes. Vor allem weil man im Bereich der Migration immer wieder anderen Menschen begegnet, die man eben nicht kennt.

Sie haben erwähnt, dass sie schon Mal im Ausland waren. Was haben Sie dort gemacht?
Ja genau! Nach der Matura habe ich nach einem Einsatz gesucht, den ich in Russland durchführen könnte, weil mich das sehr interessiert hat. Ich habe vorher nämlich angefangen Russisch zu lernen und habe mir gedacht, dass ich jetzt auch noch das Land kennenlernen will. Schlussendlich konnte ich über einen Bekannten zwei Schweizer kennenlernen, die im Ural in Russland ein Kinderheim eröffnet hatten. Ich konnte dann dort mithelfen und das war wirklich toll! Später bin ich noch weiter östlich zum Baikalsee, um dort an der Universität weiter Russisch zu lernen.

Kugeln rollen über die Bahn, Kegel fallen und krachen mit Wucht. Lautes Jubeln und Abklatschen schallt in der grossen Bowlinghalle in Muri. Auf den ersten Blick sieht diese Szene wie ein ganz normaler Bowlingabend aus. Doch für viele ist es mehr als nur das. Eine Gelegenheit zusammenzukommen, gemeinsam Zeit zu verbringen und sich mit Menschen gleichen Schicksals zu umgeben. In einem neuen Land, das für sie zu einer zweiten Heimat wurde.
Es ist 17:00 Uhr. Der Tag geht langsam in den Abend über und eine ruhige Stimmung kehrt ein. Draussen ist es kalt und grau. Der wolkenverhangene Himmel droht mit Regen und Wind pfeift durch die Bäume. Im Gebäude herrscht eine komplett andere Ambiance– gemütlich, warm und einladend. Beim Betreten der Bowlinghalle liegt eine Mischung aus Nervosität und Vorfreude in der Luft. Zum ersten Mal begibt sich unser Team zu so einem Event. Eine grosse Gruppe Jugendlicher steht in einem Kreis. Sie begrüssen sich gegenseitig mit fröhlichem Lächeln. Ihr Kleidungsstil spiegelt ihre einzigartigen Persönlichkeiten wider: von sportlichen Hoodies und Sneakers bis hin zu auffälligen Röcken und gemusterten Strümpfen.
Priscilla und Nazar, zwei engagierte Mitglieder des Jugend Rotkreuzes treten vor die Gruppe und stellen sich kurz vor. Das Jugend Rotkreuz hat dieses Event und viele weitere organisiert, damit sich die Flüchtlinge der Ukraine hier in der Schweiz einleben, integrieren und Menschen mit ähnlichen Geschichten kennenlernen können. Dank dieser Möglichkeit ist es oftmals einfacher sich in einem neuen Land einzuleben, wo einem alles noch fremd ist. Man hat die Gelegenheit über seine Sorgen zu sprechen oder einfach nur Spass mit anderen zu haben.
« Wir haben vier Bahnen für diesen Abend reserviert. In kleinen Gruppen könnt ihr schon mit dem Spielen anfangen!», sagt Priscilla.

Die Bowlinghalle ist bereits mit anderen Gruppen gefüllt, die ausgelassen spielen und kräftig feiern. Die herausstechende, ungewöhnliche blaue Beleuchtung verleiht dem Raum eine beruhigende Atmosphäre. Zwei Mädchen mit einer fröhlichen und lebhaften Ausstrahlung nehmen auf einem gepolsterten Sitz Platz. Ein Hauch von sanftem Parfüm schweift durch die Luft und mischt sich mit dem dezenten Duft der Bowlinghalle. Sie kommen auf uns zu. Ihre Gesichter strahlen eine angenehme Wärme aus. Hanna, sechzehn Jahre alt, wirkt froh, dass es Beteiligte in ihrem Alter gibt – ihr Lächeln verrät es. Sie trägt ihren Namen in die Anzeigetafel ein, wie ihre grosse Schwester Anastasiia (26) es bereits tat. Endlich sind alle bereit. Anastasiia greift zögernd nach einer schweren Bowlingkugel und erzielt ihren ersten Wurf. Die Kugel rollt über die polierte Bahn, während die Zuschauer gebannt den ersten Wurf beobachten. «Ich habe schon ewig nicht mehr gespielt», sagt sie lachend, als sie die Kegel verfehlt.
Im Hintergrund entwickeln sich währenddessen angeregte Gespräche: Unterhaltungen über ihr Heimatland, Erzählungen von der Region, aus der sie kommen und Berichtungen von den Veränderungen in ihrem Leben. Die geflüchteten Jugendlichen führen unterschiedliche Alltage in der Schweiz. Einige besuchen hier eine Schule oder absolvieren eine Ausbildung, während andere bereits arbeiten oder auf der Suche nach einer Arbeitsstelle sind. Die meisten von ihnen sind schon seit mehreren Jahren in der Schweiz und sprechen unterdessen fliessend Deutsch. An ihren Sprachkenntnissen und ihrer lebhaften Art erkennt man, wie gut sie sich in ihrer neuen Umgebung integriert haben.
Anastasiia fragt aus Interesse, warum wir an dieses Event gekommen seien.
«Wir müssen für die Schule eine Reportage für ein Journalismus-Projekt schreiben und das SRK hat uns interessiert». Sie wirkt aufmerksam und interessiert. Ihr Gesichtsausdruck ist neugierig, als würde sie jedes Detail aufnehmen und die Gespräche um sich herum genau verfolgen.
Hanna greift nach einer leichteren Kugel und zielt. Wir springen auf, jubeln und teilen einen Moment des Glücks miteinander. Das Lachen und die Freude breiten sich schnell aus. Es ist dieser kurze Moment, in dem sich alle verbunden fühlen. Man unterhält sich über die Zukunft und Pläne, die man erfüllen möchte. «Ich will Dolmetscherin werden», erzählt M., eine junge Beteiligte aus der Ukraine. «Kommunikation ist sehr wichtig. Ich möchte dies für andere Menschen gewährleisten und unterschiedlichen Kulturen den Zugang zu wichtigen Dienstleistungen ermöglichen. Natürlich mache ich das auch für Stabilität in meinem Leben», sagt sie und setzt sich in die Runde. Sie hat die Universität in der Ukraine abgeschlossen und möchte nun mithilfe ihrer Sprachkenntnisse anderen weiterhelfen.

«STRIKE!», ruft Hanna, als Anastasiia ihren schwungvollen Wurf landet.
Die Gruppe reicht munter Schokohäschen rum. «Für Schokolade ist man nie zu alt», grinst Anastasiia, während sie einen grossen Bissen nimmt. Die lockere Atmosphäre und das gemeinsame Teilen schaffen eine vertraute und angenehme Stimmung, in der sich alle näherkommen. Im Handumdrehen ist die erste Runde auch schon vorbei. Die Gewinnerin: Anastasiia. Alle freuen sich für sie und die letzte Runde beginnt. Dieses Mal mit einer neuen Darstellung. Jeder muss ein Foto von sich machen und bekommt nach jedem Spielwurf ein Accessoire. Mit Heiterkeit begibt sich jeder zu der Anzeigetafel und wartet, bis er an der Reihe ist, um eine Pose oder Grimasse zu ziehen. Dann geht es auch schon wieder los. Während Hanna sich eine Bowlingkugel greift, erzählt Anastasiia von ihrem Beruf. «Als ich noch in der Ukraine war, arbeitete ich als Englischlehrerin. In der Schweiz bin ich nun als Deutschlehrerin tätig. Es war sicherlich nicht leicht hier anzukommen, aber mit der Zeit habe ich meinen Platz gefunden», sagt sie, während sie in die Ferne schaut. In Momenten wie diesen ist gut zu erkennen, wie wichtig die Integration durch Freizeitaktivitäten und Zusammensein ist. Man kann sich somit durch Routine und das Kennenlernen von Menschen schneller wieder zurechtfinden und sich meist erfolgreicher an das tägliche Leben gewöhnen.
Plötzlich erschallt lautes Gelächter. Hanna hat gerade einen französischen Schnurrbart als Accessoire gekriegt und ihn mit ihren Haaren nachgeahmt. Amüsiert kommt Hanna auf die Gruppe zu und setzt sich auf die Bank. Während sie es sich gemütlich macht, steht Anastasiia auf, um ihr Accessoire durch einen Wurf kriegen zu können. «Ich war gestern schon mit meiner Schule hier!», erzählt Hanna, während sie die Bilder zeigt, die geschossen wurden. Sie hat schon viele neue Freunde gefunden und sich in diesen Jahren gut in ihre Klasse eingelebt, wie auf den Selfies zu erkennen ist.

Die Zeit vergeht im Handumdrehen und schon haben alle ihre Accessoires bekommen: Einen Safarihut, eine Clownsnase, bunte Haare und vieles mehr. Sämtliches, was man sich vorstellen kann, fügt sich zu munteren Bildern zusammen. Schon ist der letzte Kegel gefallen und es besammeln sich alle um Priscilla. Der Name jedes Beteiligten wird aufgerufen und Priscilla bezahlt die Kosten der Fahrkarten für dieses Event.
Der Abend neigt sich dem Ende zu. Letzte Worte werden ausgetauscht, ein Lächeln hier, ein dankbarer Blick dort. Die Gruppe verabschiedet sich, einige mit festen Händedrücken und andere mit einer kurzen Umarmung und alle machen sich auf den Heimweg. Die Bowlinghalle leert sich, doch die Gespräche und Begegnungen des Abends bleiben in Erinnerung. Wir treten hinaus in die kühle Dämmerung und machen uns auf den Weg zu der Bushaltestelle. Hanna, Anastasiia, N. und M. kommen mit. Der Weg führt über eine Brücke, von der aus man die Autobahn unter sich sehen kann.
Trotz der späten Zeit ist niemand in Eile. Das Licht der Strassenlaternen erhellt den Gehweg, während das stetige Rauschen der Fahrzeuge von unten aufsteigt und die Luft erfüllt. Leichter Wind weht, aber die Gespräche halten die Atmosphäre warm. «Habt ihr hier eine bestimmte Uhrzeit, bei der ihr zu Hause sein müsst?», fragt Anastasiia neugierig. Ihr war in den Jahren, die sie in der Schweiz verbracht hatte, aufgefallen, dass es viele Jugendliche gibt, die noch spät draussen bleiben. «Ich habe das Gefühl, dass es hier sehr sicher und ruhig ist. Bestimmt gibt es einige Orte, an denen man spät am Abend vorsichtig sein muss, aber mir gefällt, wie friedlich es in der Schweiz ist», sagt sie, während sie Platz nimmt. In ihrer Stimme schwingt eine Mischung aus Bewunderung und Nachdenklichkeit mit. Kurz darauf kommt auch schon der Bus und fügt sich in die abendliche Szenerie. Alle steigen ein, setzten sich auf die bereits aufgewärmten Sitze und unterhalten sich ein letztes Mal bevor der Abschied kommt.
Am Bahnhof angelangt zischt die kühle Abendluft der kleinen Gruppe um die Ohren. Während sich alle in einen Kreis stellen, hat sich die Stimmung etwas geändert. Im Kontrast zu vorher, als noch Bowling angesagt war und alle aufgeregt waren, liegt nun ein Hauch Wehmut in der Luft.
«Ich wünschte, wir könnten noch bleiben», murmelt jemand ganz leise. Anastasiia lächelt sanft. «Ich hoffe wir sehen uns alle irgendeinmal wieder. Es hat mir sehr viel Spass gemacht.» «Mir auch!», wirft Hanna fast zeitgleich ein. «Ihr seid alle so süss und nett. Es war wirklich toll.» Es wird sich zum Abschied fest umarmt, bevor die Stimmen langsam in den Tiefen der Nacht verhallen. Der jetzige Moment ist vielleicht vorbei, aber die Begegnungen und neuen Freundschaften bleiben ein Leben lang.